„Gott meint, dass ich noch was zu erledigen habe auf der Welt“

Früher Gastronom und Krankenpfleger, jetzt Trauerredner: Stephan Alof hat Hunderte Palliativpatienten begleitet.
Wie geht so jemand damit um, dass er plötzlich selbst dem Tod ganz nah kommt?

Interview: Philipp Crone

Stephan Alof reibt sich schon auch mal die Augen. Selbst jemanden, der schon Hunderte Palliativ-Patienten an ihren letzten Tagen und Wochen begleitet hat, greift das Thema doch immer wieder an. Oder immer mehr? Der Tod, er spielt im Leben des 56-jährigen Intensivkrankenpflegers, Kirchenvorstands und Trauerredners Alof eine große Rolle. Und seit zwei Jahren kann er sogar auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, zumindest fast. Denn in der Nacht vom 19. September 2021 fühlte er auf einmal einen großen Druck in der Brust.

SZ: Herr Alof, was ist damals passiert?
Stephan Alof: Also zunächst wusste ich immer, dass ich für Herzkrankheiten ein Risiko habe, weil meine beiden Eltern schwer daran erkrankt waren. Mein Vater ist tot, meine Mutter hat 16 Prozent Herzleistung. Ich hatte aber nie etwas. Das kam aus dem Nichts in dieser Nacht.

Was genau?
Ich saß erst noch abends in einer Weinbar gegenüber, es gab ein Geburtstagsfest. Dann gehe ich in meine Wohnung, lege mich hin und werde um halb vier wach.

Sie scheinen sich gut zu erinnern.
Ja, die nächsten Stunden habe ich auch noch sehr klar vor Augen. Ich hatte Beklemmungen, habe mich unwohl gefühlt, war kurzatmig und mir war leicht übel. Dann habe ich das Fenster aufgemacht und es ging wieder. Da habe ich mich wieder hingelegt. Und da ging es richtig los.

Was?
Ich habe immer weniger Luft bekommen und hatte einen immer größeren Druck auf der Brust. Als ob jemand auf meinem Brustkorb steht. In meiner Panik fiel mir dann die Notrufnummer 112 nicht ein, ich habe meinen Laptop geholt, gegoogelt, angerufen. Die waren sofort da. Ich habe denen auch noch die Tür aufgemacht. Zwei junge Sanitäter kamen rein und fragten mich, ob ich Drogen genommen hätte. Ich habe nur gesagt, mit ganz wenig Stimme und lallend: Ich habe einen Herzinfarkt. Hilfe, Hilfe, Hilfe.

Was passierte dann?
Die wurden auch etwas verspannt und wollten, dass ich mich hinlege, das ging aber nicht. Da hätte ich gar keine Luft mehr bekommen. Die haben telefoniert und auf einmal standen sieben Leute in meinem Zimmer, von denen einer sagte: Das ist ein Herzinfarkt. Ein anderer sagte zu mir, dass wir meine Angehörigen verständigen müssen, weil es schon sehr kritisch ist. Dann haben sie meinen Mann angerufen, den Alex, der ausgerechnet an dem Abend nicht da war. Und auf einmal kippe ich nach hinten. Das war wie in der Lenor-Werbung von früher, als die Flasche in das weiche Frottee-Tuch fällt. So hat sich das angefühlt. Es hat auch ganz wunderbar gerochen, so nach Frühling. Das war schön.

Schön?
Ja. Dieser Moment war schön. Dann habe ich wieder Geschrei gehört. Und war auf einmal wieder da, habe gesehen, dass sie mir was gespritzt hatten. Irgendwas Gutes muss das gewesen sein (lacht).

Und das war wirklich schön?
Ja, wahrscheinlich durch das Morphium. Ich hab’ mich dann auch gleich mit einem der Ärzte über Kreta unterhalten und kam natürlich sofort in die Klinik, in den OP-Saal, dort wurde ein Stent gesetzt. Und einer der Notärzte sagte nur: „Wären wir zwei Minuten später gekommen, wären Sie jetzt nicht mehr hier.“ Ich kam dann nach Großhadern und am späten Vormittag habe ich so langsam angefangen zu realisieren, was da gerade passiert ist. Und dann kommen natürlich die Ärzte und erklären einem, was man jetzt alles anders machen muss.

Nämlich?
Die Ernährung zum Beispiel. Und das ist schon aberwitzig. Die erzählen dir auf der Intensivstation, dass man sich gesünder ernähren muss, und dann kommt auf der Normalstation das Krankenhaus-Essen. Da kannst du echt nur noch lachen. Zum ersten Frühstück gab es billigstes Mischbrot, ein Stück Butter und eine Wurst. Ich hab’ es abfotografiert, weil es einfach zu gut ist. Am Abend gab es das Ganze noch einmal, nur noch mit einer Essiggurke. Und das in diesem Land.

Haben Sie gebetet in dieser Nacht?
In meiner allerersten Panik, als ich keine Luft bekam, habe ich immer wieder zu mir gesagt: Lieber Gott, bitte hilf mir. Am nächsten Tag war dann Alexander bei mir, auch mein Patenkind, und als alle wieder weg waren, habe ich erst einmal geheult, vor Freude.

Vor Freude?
Dass ich so ein Glück hatte. Und dass dieses Nahtod-Erlebnis, wenn es eins war, ja auf eine absurde Art auch so schön war. Ich habe so viele Menschen in ihren letzten Tagen begleitet in den Neunzigerjahren, als ich eine Ambulanz für Palliativ-Patienten geleitet habe. Da haben wir die Patienten betreut, die austherapiert waren und nach Hause wollten. In der Zeit habe ich mindestens 700 Menschen sterben sehen, das war in der Hochzeit von HIV, als auch einfach viele Freundeskreise komplett weggestorben sind.

Hätte Ihnen die Erfahrung dieser Nacht bei der Betreuung der Todkranken geholfen?
Schon. Ich habe aber natürlich auch immer viel gelesen, über die Sterbephasen zum Beispiel, etwa die Entwicklung von der Nichtakzeptanz zur Akzeptanz. Natürlich auch die physischen und mentalen Phasen. Ich habe Frauen und Männer in Frieden sterben sehen, andere sind wirklich krepiert, schmerzvoll, weil sie nicht gehen konnten und wollten, weil noch so vieles nicht gelöst war.

Aber es will doch niemand sterben?
In diesem Moment bei mir war es schon so: Ich habe mich dem ergeben. Ich habe aber auch überhaupt keine Angst vor dem Tod.

Ernsthaft?
Ich habe Angst vor der Art und Weise, ob mit Schmerzen. Aber wenn mir morgen jemand sagt: Sie sind an Krebs erkrankt und haben noch ein Vierteljahr, dann wäre das ok für mich.

Sie sind 56. Und Sie wirken nicht so, als ob Sie keine Pläne und keine Lebensfreude mehr hätten.
Darum geht es ja nicht. Natürlich würde ich gerne noch 30 Jahre leben. Es geht um die Diagnose und den Umgang damit in den letzten Tagen und Wochen. Ich wüsste, was zu tun wäre.

Gut und schön. Aber wie soll man denn wissen, wie man sich in so einer ganz außergewöhnlichen Situation fühlt?
Vielleicht, weil man sich schon sehr lange mit dem Thema beschäftigt. Ich habe mit so vielen Sterbenden und Angehörigen gesprochen. Oft ist man als Pfleger ja derjenige, dem sich die Sterbenden am meisten öffnen. Weil sie ihre Angehörigen schützen und nicht belasten wollen. Mein letzter Patient im Jahr 2000 war 18 Jahre alt. Der hatte gerade sein Abitur, bekam Krebs, hat auf dem Sterbebett noch seine Freundin geheiratet, lag dann vor mir, schaut mich an und sagt: „Jetzt sag du mir mal: warum.“

Und?
Ich habe gesagt, was ich immer sage: Es gibt darauf keine Antwort. Auch nicht aus christlicher Sicht. Man kann nicht verstehen, warum grausame Taten passieren, warum ein junger Mensch, der sein Leben vor sich hat, sterben muss. Das kann man nicht verstehen. Und wenn man verstanden hat, dass es nicht zu verstehen ist, da ist es schon einmal besser.

Sicher nicht besonders befriedigend für diejenigen, die fragen.
Meine Antwort ist dann aber noch nicht zu Ende. Sie geht weiter mit: Ich bin die Antwort.

Sie?
Ja. Wenn ich jetzt bei Trauerfeiern rede, sage ich das ganz oft: Die Antwort darauf, warum jemand sterben muss, ist auch, dass die anderen sich wieder vor Augen führen, das Schönste aus ihrem Leben zu machen. Da sind wir ganz eindeutig bei der wichtigsten Aufforderung. Genieße und schätze dein Leben, und zwar Je-Den Tag. Schau am Morgen in den Spiegel und sag, ob’s passt. Und wenn was nicht passt, dann ändere es.

Hat das dem jungen Mann damals geholfen?
Der war vor allem sauer. Ein junger Pfarrer war vorher bei ihm und hatte für ihn ein Bibel-Zitat: Das Leiden dieser Zeit ist nichts im Vergleich zu dem, was kommen wird. So ein Scheiß, meinte der 18-Jährige nur noch zu mir. Der brauchte jemanden, der ihm die Wahrheit sagt. Die Ärzte schlagen noch die nächste Therapie vor, der Pfarrer hat Zitate und seine Mutter hat ihm bis zuletzt gesagt, dass alles gut wird.

Was haben Sie ihm gesagt?
Dass er in den nächsten 14 Tagen sterben wird und noch alles regeln soll, was ihm wichtig ist, und zwar sofort. Und es sich sonst gut gehen lassen. Oft war es im Übrigen so, dass man die Angehörigen mehr betreuen muss als den sterbenden Menschen.

Hat Ihnen denn der Glaube im Moment dieses Herzinfarkts und danach geholfen?
Ich denke schon. Als Glaubender, egal an welchen Gott, weiß ich jemanden immer an meiner Seite und dementsprechend auch bei allen schwierigen Momenten. Und dadurch geht es mir in solchen Momenten ein bisschen besser, es gibt mir ein bisschen Leichtigkeit und nimmt mir Ängste. Es ist schön, in der Kirche beheimatet zu sein. So ein Kirchenjahr ist auch einfach für viele ein gutes Lebensgerüst.

Können eine Bigband oder eine Handballmannschaft auch sein.
Natürlich. Jeder Verein. Das sind Orte, in denen die einen auf die anderen aufpassen. Und darum geht es doch auch. Insgesamt engagieren sich aber leider immer weniger Menschen. Dabei erlebe ich jeden Tag: Menschen, die anderen etwas Gutes tun wollen, sind zufriedener.

Sie sind jetzt Trauerredner und engagiert in der Pfarrei mit dem wohl mitteilungsbedürftigsten katholischen Pfarrer der Stadt. Tauschen Sie sich mit Rainer Schießler aus?
Klar. Wir sind in einem permanenten Austausch miteinander.

Warum sind Sie denn nicht Pfarrer geworden?
Ich könnte den Marx ja mal fragen, ob er mich als verheirateten Homosexuellen weihen würde. Klar war das mein Berufswunsch, aber damals wollten sie mich nicht, weil ich schwul bin. Mit der Taufe ist aber doch ohnehin jede Christin und jeder Christ Priester. Man muss es einfach nur machen.

Bis auf das Spenden der Sakramente. Mittlerweile engagieren Sie sich noch mehr in der Pfarrei?
Ja, ich muss ja, sonst sterbe ich. Ich hab’ mir damals vor zwei Jahren schon alles gut angeschaut, was ich so mache und bin. Habe dann stark abgenommen, was ich alles natürlich jetzt wieder drauf habe. Aber das ist jetzt schon anders: Ich beschäftige mich einfach noch mehr mit mir und meinem Körper. Achte mehr auf mich, auf mehr Ruhe, mehr Schlaf, mehr Bewegung. Ich bin egoistischer geworden. Aber klar, ich bin Risiko-Patient und oft beim Kardiologen.

Sie jammern gar nicht über diesen gesundheitlichen Einschnitt.
Nein, mich hat das Ganze schon auch positiv verändert. Ich denke mittlerweile oft: Gut, Gott meint eben, dass ich schon noch was zu erledigen habe auf der Welt.

Schafft man es nach so einer Erfahrung wie Ihrer besser, wirklich jeden Tag zu genießen?
Vielleicht. Allein schon durch die Medikamente, die ich täglich nehmen muss, ist das Thema präsent.

Man soll seine Dinge regeln, predigen Sie. Haben Sie Ihre eigene Trauerfeier schon geplant?
Ja, alles da. Testament, ein ganz einfacher Sarg ohne Schnickschnack. Mir ist auch wichtig, wie ich mich verabschiede. Ich will in St. Maximilian eine Trauerfeier haben. Und zwar eine wirkliche Feier. Ich will weiß, nicht die liturgische Farbe, das wäre schwarz. Anderen ist es völlig egal, wie ihre Beerdigung aussieht.

Wie ist jetzt das Fazit nach zwei Jahren Leben nach dem Lenor-Moment?
Ich versuche seitdem, den Menschen die Panik vor dem Tod zu nehmen. Das, was wir mit unserem Bestattungsunternehmen machen, ist: dem Tod auch seine Schönheit wiederzugeben. Der Tod ist schön. Wir raten auch zu einer Aufbahrung.

Das ist zum Beispiel in Italien verbreitet. Warum raten Sie dazu?
Weil es wichtig ist, dem Tod in die Augen zu schauen, den Prozess zu erleben, wie sich ein Mensch und ein Gesicht verändert. Irgendwann sagen die Angehörigen dann auch: So, jetzt können Sie ihn abholen. Dann haben Sie Frieden mit diesem Thema geschlossen.

„Wären wir zwei Minuten
später gekommen, wären
Sie jetzt nicht mehr hier“,
sagt der Notarzt
„Man kann nicht verstehen,
warum ein junger Mensch,
der sein Leben noch
vor sich hat, sterben muss.“

Vita
Stephan Alof war viele Jahre lang in München als Gastronom immer neuer Lokale bekannt. Zunächst hatte er nach seiner Zeit als Betreuer von Palliativ-Patienten im Münchner Glockenbachviertel das Café Maria eröffnet, es folgte die Bar Josef gegenüber. Was Alof machte, schien zu funktionieren. Er eröffnete eine gleichnamige Bäckerei, die schnell mehrere Filialen hatte, die Eisdiele Jessas neben Maria und Josef, die Boazn Gruam am Schlachthof, das frühere Strip-Lokal Pigalle machte er zu einer Kneipe. Dazu kam noch das Wirtshaus Maximilian. Mittlerweile betreibt Alof nur noch die Pizzeria Josef und arbeitet neben seinem Kirchen-Ehrenamt in St. Maximilian vor allem als Trauerredner. Er hat mittlerweile mehrere Bücher veröffentlicht, auch zusammen mit Pfarrer Rainer Maria Schießler von St. Maximilian.

CRO
„Mir ist wichtig,
wie ich mich verabschiede.
Ich will in St. Maximilian
eine Trauerfeier haben.“

Stephan Alof hatte 2021 einen schweren Herzinfarkt. Dieses Nahtod-Erlebnis sei „auf eine absurde Art auch schön gewesen“, sagt er.

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